Graciela und ihre Töchter

Mehr als Kalorien: Vielfältigere Ernährung für Maya-Familien in Guatemala

Mehr als Kalorien

Vielfältigere Ernährung für Maya-Familien in Guatemala

Mit kleinen Veränderungen Schritt für Schritt zur Wirkung im Grossen. Dieses Prinzip ist die Basis aller Projekte von Vivamos Mejor. Das hier vorgestellte Projekt Mehr als Mais beginnt mit kleinen Veränderungen im Privaten, in diesem Fall bei der Hygiene und Ernährung der Kinder und der Familie. Es findet seine logische Fortsetzung beim Landbau und kommt so zu buchstäblich Welt bewegenden Fragen der Ökologie.

Text: Hanspeter Bundi; Marla Muj, Fotos: Morena Pérez Joachin (Fairpicture)



Alles ist gut bei Sarah Angelina Yax Perez. So scheint es jedenfalls. Die Wände der winzig kleinen Wohnung sind zwar unverputzt, und über der Kochstelle sind die Zementziegel schwarz vom Rauch. Der Boden ist sauber gewischt. Die Kleider liegen gewaschen und zusammengelegt in einem Gestell. Das Küchengerät glänzt. Sarah tut viel, um das Chaos, das oft mit der Armut einhergeht, draussen zu halten. Sie steht mitten im Raum, klein und schmal, hat ihre Tochter im Arm und sieht zu, wie ihr kleiner Fernando gemessen und gewogen wird.

Daniela Maria Tanchez Sandoval ist Ernährungsberaterin für Vivamos Mejor, eine junge, fröhliche Frau mit einem guten Zugang zu den Kindern. «Und jetzt stell dich mal da hin», sagt sie zu Fernando. «Oh, so gross bist du schon... Komm, Fernandito. Lass dich wiegen». Fernando ist zu klein und zu leicht für sein Alter. Teilnahmslos lässt er alles mit sich geschehen. «Sie wollen nicht spielen. Sie sind traurig. Sie wollen nichts tun. Das ist doch nicht normal», hat eine der Mütter vor einigen Tagen über unterernährte Kinder gesagt. Es war, als hätte sie Fernando beschrieben.

«Sie wollen nicht spielen. Sie sind traurig. Sie wollen nichts tun. Das ist doch nicht normal»

Die Ernährungsberaterin Daniela Maria Tanchez Sandoval – kurz Dany – im Gespräch mit Projektteilnehmerin Sarah Angelina Yax Perez und Sohn Fernando.


Im Jahr 2017 waren im Hochland über dem Lago de Atitlán 80 Prozent der Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt. Das sind mehr als in den meisten Regionen Guatemalas, einem der ärmsten Länder Lateinamerikas.

Zusammen mit 250 Familien in den Dörfern Pajomel, Chuitzanchaj und Laguna Seca hat sich Vivamos Mejor darangemacht, die Ernährungssicherheit zu verbessern. Das Projekt hat den Namen Mehr als Mais. Mehr als das alte Grundnahrungsmittel des Landes also. Der  Name passt. Im Zentrum des Projekts stehen nicht Kalorien, sondern eine vielfältige Ernährung und sauberes Wasser.

Dany trägt die Messergebnisse für Fernando ein und sieht ihren ersten Eindruck bestätigt: Der zweieinhalbjährige Bub ist 77 Zentimeter gross und neun Kilo schwer. Das sieht etwas besser aus als beim letzten Besuch. Doch Fernando ist immer noch stark unterernährt. «Er hat Durchfall», sagt Sarah. Dany erklärt, dass unsauberes Wasser krankmacht. «Ich koche es ab», sagt Sarah. «Was habt ihr heute Mittag gegessen», fragt Dany. «Teigwaren», sagt Sarah. Gestern waren es Maistortillas. Dany lädt sie zu einem Kochkurs ein, der in den nächsten Tagen stattfindet.

«Wenn wir unsere Ziele erreichen wollen, müssen wir bei unserem eigenen Verhalten beginnen», sagt Dany. «Das ist das wichtigste Prinzip unserer Arbeit». Die Zeichen dafür stehen gut. Dany hat festgestellt, dass die Mütter Vivamos Mejor mehr vertrauen als den staatlichen Gesundheitsbehörden. Sie nennt Gründe dafür: «Wir gehen zu den Müttern heim, statt sie in ein Gesundheitszentrum zu bestellen. Wir haben immer eine Frau dabei, die die Maya-Sprache Kachikel spricht. Wir nehmen uns Zeit, um Zusammenhänge zu erklären. Und wir betonen die positiven Entwicklungen».

80%
der Kinder unter 5 Jahren sind chronisch unterernährt in einer der ärmsten Region Südamerikas, Lago de Atitlán, Guatemala

Im Video zur Reportage nehmen wir Sie mit ins Dorf Chuitzanchaj, wo uns Graciela Chumil García ihren Garten zeigt (Spanisch mit deutschen Untertiteln)

Der 6. April, der erste Mittwoch des Monats, morgens um neun Uhr. Zeit für die monatliche Radiostunde mit Vivamos Mejor. «Zuhause lernen!», ruft die Moderatorin. «Heute geht es um Schwangerschaft und Stillzeit». Eine, die oben im Dorf Chuitzanchaj besonders aufmerksam zuhört, ist Graciela Chumil García. Sie hat ihr Handy an einen winzigen Lautsprecher gestöpselt und hört zu, während sie Hausarbeiten erledigt. Sie hört, wie wichtig es ist, dass schwangere Frauen sich ausgewogen ernähren und dass junge Mütter ihre Kinder stillen. Es ist ein Thema, das Graciela nicht mehr direkt angeht. Estrella und Kimberley sind aus dem Säuglingsalter heraus. Weitere Kinder will sie nicht.

Trotzdem will sie die Sendung bis in die Details hinein kennen. In den nächsten Tagen wird sie Hausbesuche machen, um die Themen der Sendung zu vertiefen. Einige Frauen, immer weniger, reagieren misstrauisch auf ihre Besuche. Andere antworten noch einsilbig. Doch mit der Zeit lockert sich das Gespräch und wird zu einer Begegnung auf Augenhöhe. Erfahrungen werden ausgetauscht. Die Kinder. Die Pandemie. Die Maisernte. Die Regenzeit, die schon bald kommt. Graciela diskutiert mit den Frauen über Schulbildung und Ehe. Manchmal lässt sie sich einen Küchengarten zeigen. Sie bewundert ein Zitronenbäumchen, das erste Früchte trägt. Sie zerreibt ein Pfefferminzblatt zwischen den Fingern. Sie lobt den Blumenschmuck vor dem Haus.

Graciela erntet zusammen mit ihrer Tochter Kimberley die Früchte ihrer Arbeit.

Graciela ist eine wichtige Trägerin des Projekts. Schon wenige Monate nach ihrem ersten Kontakt zu Mehr als Mais wurde sie angefragt, ob sie als Promotorin mitarbeiten wolle. Heute ist sie die Ansprechpartnerin für 36 Frauen. Für das, was sie den Frauen vermitteln will, hat sie eine einfache Formel: «Weg von den Konserven und den Süssgetränken. Hin zum frischen Gemüse und zur vitaminreichen Limonade». In den allgegenwärtigen Tiendas, den kleinen und kleinsten Verkaufsläden, ist von gesunder Vielfalt wenig zu sehen. Hier dominieren die grellbunten Verpackungen von Keksen und überzuckerten Fruchtsäften. Alles billig und einfach zu konsumieren. Dazu kommen Schulutensilien und Gemüsekonserven. Frischgemüse findet sich fast nur auf offenen Märkten, und die sind mehrere Wegstunden entfernt. Wenn sie ihre Kinder vielfältiger ernähren wollen, müssen sich die 250 Familien des Projekts also selber besser versorgen. Sie haben begonnen, die gesuchten Früchte, Gemüse und Kräuter selber anpflanzen.

Vielfalt ist ein Begriff, der in den Gesprächen mit Teilnehmerinnen des Projekts immer wieder genannt wird. k‘iy tiko‘n heisst das in Kaqchikel. Vielfalt in den Pflanzungen. Der Agroökologe Luis Alfredo Bixcul erklärt, was damit gemeint ist. Er ist hier aufgewachsen und wurde auch hier ausgebildet. Er beschreibt die Milpa, die traditionelle Mischkultur der alten Maya. «Mais, Bohnen und Kürbisgewächse. Unsere Vorfahren nannten sie die drei Schwestern», sagt er. Mais für die Kohlehydrate. Bohnengewächse, die Eiweiss in die Kochtöpfe bringen und Stickstoff im Boden anreichern. Kürbisgewächse, die den Boden mit ihren grossen Blättern schützen und wichtige Vitamine enthalten, Magnesium, Kalium und Zink. Dazu kommt eine Vielzahl von Kräutern. Medizinpflanzen, Blumen für die Bienen, Kräuter gegen Schädlinge.

«Früher wussten alle, dass die Milpa die Fruchtbarkeit der Böden bewahrt», sagt Luís. «Doch dann kam die Grüne Revolution». Die Bauern konzentrierten sich ganz auf den Anbau von Mais. Hochleistungssorten, Kunstdünger und Pestizide brachten zuerst grosse Erträge. Doch bald einmal mussten die Bauern feststellen, dass die neuen ‹revolutionären› und kostenintensiven Anbaumethoden den Boden auslaugen.

Die traditionelle Mischkultur der alten Maya, genannt «Milpa», soll Vielfalt zurück in die Gärten bringen: Neben Mais wachsen nun dort auch Kartoffeln, Bohnen und Kürbisgewächse sowie eine Vielzahl von Kräutern.

Im projekteigenen Schulungszentrum erklärt Agroökologe Luis Alfredo Bixcul den Projektteilnehmerinnen die Funktion eines gesunden Bodens, bevor sie das Gelernte gleich selber anwenden.

Wie zahlreiche Entwicklungsorganisation überall auf der Welt sucht auch Vivamos Mejor Auswege aus der Sackgasse. Und setzt dabei vor allem auf die Beratung vor Ort, auf den Feldern der Bäuerinnen und Bauern also. Für Kurse nutzen erfahrene Agrotechniker die Einrichtungen eines Schulungszentrums, dessen Betrieb Vivamos Mejor zusammen mit anderen Organisationen finanziert. Neben einem Vortragssaal finden sich hier die Baumschule, eine Kompostieranlage, ein Gewächshaus und ein Hühnerstall.

Das Hauptgebäude des Centro steht im Schatten zahlreicher Bäume. Das Licht, das durch die grossen Fenster hereinfällt, ist angenehm weich. An den Wänden hängen Illustrationen zur Nahrungspyramide und zu Hygiene, zum Aufbau gesunder Böden, zu Pflanzenvielfalt und Hühnerzucht. An Tischen, die mit Wachstüchern bedeckt sind, sitzen 20 Frauen und einige Männer. Nach Luís‘ Vortrag über die Funktionen eines gesunden Bodens haben sie auf dem weiten Gelände des Centro Pflanzlöcher für neue Bäume gegraben, Kompost umgeschichtet, und jetzt nehmen sie einen kleinen Imbiss ein, bevor sie in ihre Küchen, ihre Hausgärten und auf ihre Felder zurückgehen. Sie haben Jungbäumchen und Gemüsesetzlinge erhalten. Es ist April. In wenigen Wochen beginnt mit dem Winterregen auch die Pflanzzeit und damit die wichtigste Periode des Jahres.

Die Beratungen und Kurse von Vivamos Mejor haben buchstäblich Früchte getragen. Eine Umfrage bei den 250 Familien des Projekts zeigt, dass die Ernährung im Rahmen des Projekts tatsächlich vielfältiger geworden ist. Die Umfrage stützte sich auf die zehn Nahrungsgruppen, die von der FAO definiert wurden – von Getreide und Hülsenfrüchten über tierische Eiweisse bis hin zu Gemüse und Früchten. 2020 fanden Nahrungsmittel aus durchschnittlich vier Gruppen ihren Weg in die Kochtöpfe. Ein Jahr später waren es bereits fünf Nahrungsgruppen. Parallel dazu sind auch die Gärten und Felder vielfältiger geworden. 70 Prozent aller Projektfamilien haben ihre Anbaumethoden verbessert. Zwischen 2017 und 2019 hat sich die Zahl der Nutzbäume auf ihren Feldern vervielfacht. Auf den Feldern und in den Gärten wachsen heute 25 Prozent mehr verschiedene Pflanzen. Die Ernteerträge für Mais stiegen um zehn Prozent, die Durchfallerkrankungen bei den Säuglingen gingen um ein Drittel zurück. Beobachtungen der beteiligten Fachleute deuten darauf hin, dass die positive Entwicklung auch während der Corona-Zeit weiterging.

Bei Jorge Minor Cuc, Gracielas Mann, zum Beispiel. Er hat schon früh begonnen, die Vorschläge von Vivamos Mejor umzusetzen. Er hat Bäume gepflanzt, denn sie brechen den Wind und halten den Boden zusammen. Einen Teil seiner kleinen Parzelle hat er mit einem Dach aus Stangen und Plastikbahnen überdeckt. Stolz zeigt er die verschiedenen Pflanzen in seinem Gewächshaus, von der Tomate über Küchenkräuter bis zum Basilikum, den er auf dem Markt verkauft.

Jorge zeigt dem Autor Hanspeter Bundi per Videocall die Pflanzen im Gewächshaus. Erfahren Sie mehr über die Entstehung der Reportage im Making-of.

«Ich habe ihm erzählt, was ich in den ersten Kursen gelernt habe», erzählt Graciela. «Miteinander sind wir zum Schluss gekommen, dass die Gesundheit unserer Kinder das wichtigste ist». Jorge sagt es mit den fast gleichen Worten und fügt noch hinzu: «Theorie und Praxis. Wir haben jetzt das Wissen. Ob wir das jetzt umsetzen, hängt ganz von uns selber ab».

Am meisten beeindruckt ist Graciela noch immer von den Kochkursen in Mehr als Mais. «Sie zeigen ganz konkret, was wir für die Ernährung unserer Kinder tun können». Heute hat Olga Saloj zu einem Kurs in ihr Haus eingeladen. Unter den sechs Frauen ist auch Sarah, die Mutter von Fernando. Sie hat die Einladung von Dany, der Ernährungsberaterin, angenommen. Wie alle Frauen hat auch Sarah sich zurechtgemacht. Sie trägt zwar nicht die festliche Bluse, die sie an grossen Festen anzieht. Aber doch ein Kleid, das sie aus dem Alltag heraushebt. Die Mütter sind mit ihren Kindern  gekommen und lassen sie draussen im Hof spielen, während sie neue Gerichte kennenlernen. Eine Gemüsesuppe. Eine Kombination von Salaten. Omelette mit Gemüse. Die traditionellen roten Bohnen, diesmal angereichert mit eisenhaltigen Kräutern und Tomaten.

Kochkurse sind ein integraler Teil des Projekts: Die Teilnehmerinnen lernen, wie sie die neuen Ernteprodukte in ihre Gerichte integrieren und ihre Familien ausgewogen ernähren können.

Es wird ernsthaft geschält, geschnitten und gekocht. Und es wird viel gelacht. Über kleine und grosse Missgeschicke, die in den kleinen Dörfern schnell die Runde machen. Über die Ablehnung ihrer Kinder, wenn sie ihnen etwas Neues kochen. Sie lachen auch über die Männer, über die eigenen und über die der anderen. Skeptisch probieren die Frauen die neu gekochten Gerichte. Nicht alles kommt gut an. Doch es gibt eine Regel: Wenn Eier drin sind, schmeckt es. «Ich habe gekocht, was ich im Kurs gelernt habe», schreibt eine Frau einige Tage später in einer SMS. Daneben das unscharfe Bild einer Portion Rührei mit Gemüse.

Ich frage Graciela nach ihrer wichtigsten Erfahrung mit Vivamos Mejor. Sie denkt kurz nach und sagt: «Ich habe gemerkt, dass ich nicht die einzige war, die wenig über die Krankheiten ihrer Kinder wusste». Wie alle andern sei sie besorgt gewesen, sagt sie. «Was wir aber nicht wussten, war, dass die Kinder ihr ganzes Leben lang schwach bleiben können». Heute, einige Jahre später, ist Graciela stolz auf das, was nicht nur sie, sondern die ganze Gemeinschaft erreicht hat. Der Stolz ist ihr anzusehen, ihrem Lachen, der Art, wie sie den Kopf zurückwirft. Ich frage sie nach ihren Träumen. «Es sind viele», sagt sie. Doch dann zeigt sich, dass es nur wenige sind – und dass es ähnliche Träume sind wie die von europäischen Müttern: Eine gute Ausbildung für die Mädchen. Ein eigenes kleines Haus. Gesundheit. Und dann erzählt sie von ihrem ganz grossen Traum. Sie will die verlorenen Schuljahre nachholen und Krankenschwester lernen, denn, sagt sie, «es wichtig, dass die Kranken sich an eine Pflegerin aus dem eigenen Dorf wenden können».



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