Mehr als Kalorien
Vielfältigere Ernährung für Maya-Familien in Guatemala
Mit kleinen Veränderungen Schritt für Schritt zur Wirkung im Grossen. Dieses Prinzip ist die Basis aller Projekte von Vivamos Mejor. Das hier vorgestellte Projekt Mehr als Mais beginnt mit kleinen Veränderungen im Privaten, in diesem Fall bei der Hygiene und Ernährung der Kinder und der Familie. Es findet seine logische Fortsetzung beim Landbau und kommt so zu buchstäblich Welt bewegenden Fragen der Ökologie.
Text: Hanspeter Bundi; Marla Muj, Fotos: Morena Pérez Joachin (Fairpicture)
Sarah Angelina Yax Perez steht in ihrer sauber aufgeräumten Küche und sieht zu, wie ihr Sohn gemessen und gewogen wird. Fernando ist zu klein und zu leicht für sein Alter. Teilnahmslos lässt er alles mit sich geschehen. «Sie wollen nicht spielen. Sie sind traurig. Sie wollen nichts tun. Das ist doch nicht normal», hat eine der Mütter vor einigen Tagen über unterernährte Kinder gesagt. Es war, als hätte sie Fernando beschrieben.
Im Jahr 2017 waren im Hochland über dem Lago de Atitlán (Guatemala) 80% der Kinder unter 5 Jahren chronisch unterernährt. Zusammen mit Vivamos Mejor haben sich 250 Familien der indigenen Dorfgemeinschaften Pajomel, Chuitzanchaj und Laguna Seca daran gemacht, ihre Ernährung zu verbessern. Das Projekt hat den Namen Mehr als Mais. Mehr als das traditionelle Grundnahrungsmittel des Landes also. Der Name passt. Im Zentrum des Projekts stehen nicht nur Kalorien, sondern eine vielfältige Ernährung und sauberes Wasser. Die Wege dahin werden bei Hausbesuchen, einer Radiosendung, Kochkursen und der Ausbildung für Bäuerinnen und Bauern aufgezeigt.
Eine Radiosendung und 36 Hausbesuche
Immer am ersten Mittwoch des Monats, morgens um neun Uhr, stöpselt Graciela Chumil García aus dem Dorf Chuitzanchaj ihr Handy an einen winzigen Lautsprecher. So hat sie die Hände frei für einfache Hausarbeiten, während sie der Radiostunde von Vivamos Mejor lauscht. Graciela ist eine besonders aufmerksame Zuhörerin, denn in den nächsten Tagen wird sie 36 Hausbesuche machen, um mit Frauen ihres Dorfes die Themen der Sendung zu vertiefen und Erfahrungen auszutauschen. Die Kinder. Die Pandemie. Die Maisernte. Schulbildung. Ehe. Für das, was sie den Frauen vermitteln will, hat Graciela eine einfache Formel: «Weg von Konserven und Süssgetränken. Hin zum frischen Gemüse und zu einer vielfältigen Küche.»
Olga Saloj, auch sie eine indigene Frau des Dorfes, zeigt in einem Kochkurs, wie Vielfalt geht. Sechs Frauen sind gekommen. Einige haben ihre Kinder mitgenommen und lassen sie draussen im Hof spielen, während sie selber neue Gerichte kennenlernen. Eine Gemüsesuppe. Eine Kombination von Salaten. Omelette mit Gemüse. Die traditionellen roten Bohnen, diesmal angereichert mit Kräutern und Tomaten. «Ich habe gekocht, was ich im Kurs gelernt habe», schreibt eine Frau einige Tage später in einer SMS. Daneben das unscharfe Bild einer Portion Rührei mit Gemüse.
Nur: Gemüse gibt es im Dorf keines zu kaufen. Es hat hier keinen offenen Markt, und im Sortiment der allgegenwärtigen Tiendas, den kleinen und kleinsten Verkaufsläden, finden sich vor allem Süssigkeiten, Konserven und Softdrinks. Wenn die Mütter vielfältiger und gesünder kochen wollen, müssen sie sich also auf die eigenen Ressourcen verlassen.
Vielfalt im Garten und im Feld
Im Rahmen von Mehr als Mais haben bereits 70% aller Familien begonnen, eine Vielfalt von Früchten, Gemüsen und Kräutern anzupflanzen. Früher war diese Vielfalt eine Selbstverständlichkeit. Die Milpa, die traditionelle Mischkultur der Maya, stützte sich auf die «Drei Schwestern» Mais, Bohnen- und Kürbisgewächse. Mais für die Kohlehydrate. Bohnengewächse für das Eiweiss in den Kochtöpfen und den Stickstoff in der Pflanzung. Kürbisgewächse für Vitamine und Mineralien sowie als Schutz für den Boden. Zu den Drei Schwestern kamen eine Vielzahl von Küchenkräutern, Medizinalpflanzen und Kräutern gegen Schädlinge.
Die Grüne Revolution mit ihrem Hochleistungssaatgut und den Agrochemikalien hat die Milpa verdrängt und die Bauernfamilien wirtschaftlich unter Druck gesetzt. Wie zahlreiche Entwicklungsorganisation überall auf der Welt sucht auch Vivamos Mejor Auswege aus der Sackgasse. Das Projektteam fördert agroökologische Anbaumethoden mit Mischkulturen und setzt dabei auf praktische Beratung vor Ort, auf den Feldern der Bäuerinnen und Bauern also. Für Schulungen nutzen zudem eine Vorzeigefarm, zu dem auch eine Baumschule, eine Kompostieranlage und ein Gewächshaus gehören.
Im Atitlán-Hochland hat Mehr als Mais buchstäblich Früchte getragen. Eine Umfrage bei den 250 Familien des Projekts zeigt, dass die Ernährung im Rahmen des Projekts vielfältiger geworden ist. Die Durchfallerkrankungen bei den Säuglingen gingen um ein Drittel zurück. In den Feldern und Gärten wachsen heute 25% mehr verschiedene Pflanzen. Die Zahl der Nutzbäume auf den Feldern hat sich vervielfacht. Die Ernteerträge für Mais stiegen um zehn Prozent.
Jorge Minor Cuc, Gracielas Mann, hat schon früh begonnen, die Vorschläge von Vivamos Mejor umzusetzen. Stolz zeigt er die zahlreichen Pflanzen auf seinem kleinen Feld, vom Mais über die Tomaten bis zum Basilikum, den er auf dem Markt verkauft. Dazwischen stehen zahlreiche Fruchtbäume. «Ich habe meinem Mann erzählt, was ich in den ersten Kursen gelernt habe», erzählt Graciela. «Miteinander sind wir zum Schluss gekommen, dass die Gesundheit unserer Kinder das wichtigste ist.» Jorge sagt es mit fast den gleichen Worten und fügt noch hinzu: «Theorie und Praxis. Wir haben jetzt das Wissen. Ob wir das umsetzen, hängt von uns selber ab.»
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