Ernährungsberatung in Guatemala

«Ein instabiles Lateinamerika wäre das Letzte, was die Welt jetzt braucht»

Interview von Swissinfo.ch mit Ira Amin

«Ein instabiles Lateinamerika wäre das Letzte, was die Welt jetzt braucht»


Ira Amin, Bereichsleiterin Programme bei Vivamos Mejor, hat mit Swissinfo.ch gesprochen: Darüber, was es bedeutet, dass die Schweiz ihre bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika beendet und weshalb sich Vivamos Mejor weiterhin in der Region engagiert.

 

Das Interview führte Sibilla Bondolfi, mit Input von Patricia Islas.
Wir publizieren das Interview mit Genehmigung der Autorin.
Zum Artikel auf Swissinfo.ch

Ira Amin

Swissinfo.ch: Ist der Rückzug der Schweiz aus Lateinamerika bereits spürbar?

Ira Amin: Gemäss unseren Informationen führt die schweizerische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA die laufenden Verträge bis 2024 weiter, daher ist es noch zu früh, etwas über die Auswirkungen des Rückzugs zu sagen. 

Es hiess immer, die Schweiz versuche, ihre Projekte an andere Länder, NGOs oder internationale Organisationen abzugeben. Übernimmt Vivamos Mejor jetzt DEZA-Projekte?

Nein, im Zusammenhang mit dem Rückzug übernehmen wir direkt keine Projekte der DEZA.

Ist Vivamos Mejor vom Rückzug der Schweiz betroffen, müssen also Projekte eingestellt werden?

Nein, unsere Projekte sind vom Ausstieg nicht betroffen. Wir erhalten von der DEZA einen Programmbeitrag für die Phase 2021-2024.

Wird dieser weiterhin fliessen?

Gemäss DEZA sind die Programmbeiträge unabhängig vom Rückzug der bilateralen Zusammenarbeit. Die Bewerbung für die nachfolgende Programmphase 2025-2028 startet aber im 2023, es ist deshalb noch zu früh, um dazu Aussagen zu machen.

Was passiert denn mit den DEZA-Projekten, wer schliesst die Lücke?

Gemäss der DEZA-Kommunikation, die wir erhalten haben, wird ihr Portfolio von der spanischen Kooperation übernommen. 

Also ist der Rückzug über das Ganze gesehen gar nicht so schlimm?

Laut DEZA betrifft der Ausstieg in erster Linie die bilaterale Zusammenarbeit, so wurde es uns jedenfalls kommuniziert. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco bleibt in Lateinamerika tätig. 

Trotzdem bedauern wir den Entscheid der Schweiz, sich aus der bilateralen Zusammenarbeit zurückzuziehen. Denn die Bedürfnisse der Menschen sind nach wie vor gross. Die Corona-Krise hat ganz Lateinamerika in eine wirtschaftliche Schieflage gebracht und soziale Fortschritte von zehn Jahren zunichtegemacht. 

Dazu kommt: Viele öffentliche Geldgeber wie Gemeinden und Kantone richten ihre Unterstützung nach den Schwerpunktregionen der DEZA aus. Wir hoffen, dass die anderen Geldgeber auch nach 2024 ihren Fokus auf Lateinamerika legen werden, auch wenn die DEZA nicht mehr dort tätig ist.

Die geopolitische Situation ist momentan schwierig. Kommt der Rückzug zu einem ungünstigen Zeitpunkt?

Wir von Vivamos Mejor haben uns schon 2019, als die DEZA den Ausstieg aus Lateinamerika ankündigte, gemeinsam mit anderen NGOs in einem offenen Brief für den Verbleib in Lateinamerika ausgesprochen. Wir bedauern den Ausstiegsentscheid damals wie heute.

Aber Sie haben Recht, dass globale Krisen die Situation verschärfen. Die Wachstumsprognosen für Lateinamerika nach der Corona-Pandemie sind düster. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik prognostiziert eine niedrige Wachstumsrate von unter 3 Prozent. Dies sind circa 2 Prozent tiefer als vor der Coronakrise.

Der Ukraine-Krieg verschärft die Nahrungsmittelknappheit. Gemäss dem UN Globalnetzwerk gegen Ernährungskrisen werden die zentralamerikanischen Länder in den nächsten Jahren von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sein. Alle unsere Einsatzländer in Lateinamerika erwarten eine höhere Inflationsrate. Das bedeutet, dass die Kaufkraft der lokalen Bevölkerung gemindert und die sozialen Spannungen angeheizt werden.

In Nicaragua zum Beispiel erwartet die Weltbank eine Zunahme der Inflation um 6 Prozent. Der autokratisch regierte Staat isoliert sich immer mehr. Seit der politischen Krise 2018 sind über 150'000 Menschen aus dem Land geflüchtet. Die Regierung hat zudem allein seit 2021 über tausend NGOs zwangsgeschlossen.

Die globalen Krisen treffen Subsahara-Afrika aber auch stark und die DEZA argumentiert, dass durch den Rückzug der Schweiz aus Lateinamerika Mittel frei werden für Subsahara-Afrika. Warum also doch Zentralamerika?

Weil es eine der Regionen ist, die weltweit am meisten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen ist. Nach den Hurricanes Eta und Iota Ende 2020 verloren Hunderttausende Menschen ihr Obdach. Der Klimawandel bringt auch Herausforderungen im Bereich Ernährungssicherheit. Die globalen Krisen prasseln so verstärkt auf die Bevölkerung nieder. Das müsste man berücksichtigen.

Die Ungleichheiten innerhalb eines Landes sind zunehmend krasser als die Wohlstandsunterschiede zwischen den Staaten. Hätte die Schweiz das bei der Wahl der Schwerpunktländer Ihrer Meinung nach berücksichtigen müssen? 

Ja, unserer Ansicht nach wäre es wichtig, dass wir auch die innergesellschaftlichen Ungleichheiten bei der Wahl von Schwerpunkten stärker berücksichtigen. Nationale Länderzahlen kaschieren, dass es einigen Bevölkerungsteilen schlecht geht. 

Wir befürworten eine wirtschaftliche Entwicklung, aber es ist wichtig, dass alle davon profitieren. Ein Land kann wirtschaftlich wachsen, aber gleichzeitig können die wirtschaftlichen Ungleichheiten wachsen.

Und das ist gefährlich: Je grösser die sozialen Unterschiede in Lateinamerika wachsen, desto grösser ist das Risiko von politischen Unruhen, wie wir in Kolumbien und Nicaragua gesehen haben. Es wäre besser, Brände zu vermeiden, als Feuer zu löschen. Das Letzte, was die Welt jetzt braucht, ist noch eine instabile Weltregion. Es wäre wichtig, Lateinamerika nicht zu vergessen.

Europa ist jetzt aber mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt.

Es ist schon so. Lateinamerika ist geografisch nicht so nah, die Schweizer Medien berichten weniger. 

Der Krieg in der Ukraine hat auch Auswirkungen auf Lateinamerika. Die Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sind stark gestiegen, das trifft die ärmste Bevölkerung innerhalb eines Landes am stärksten. Das ist auch in Lateinamerika der Fall. Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik sieht voraus, dass der Anteil verletzlicher Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika auf 33,7 Prozent steigen könnte in diesem Jahr. 2014 lag diese Quote bei 27,8 Prozent. Wir sehen also deutliche Rückschritte.

Wie geht es der indigenen Bevölkerung in Mittelamerika und anderen Ländern, wo sich die wirtschaftliche Macht auf eine Handvoll Familien konzentriert?

In unserem Projektgebiet in Guatemala sind 66 Prozent der indigenen Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt. 

Auch 25 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ist Armut und Unterernährung weit verbreitet. Überproportional davon betroffen ist die ländliche und indigene Bevölkerung. Deshalb konzentrieren sich unsere Projekte auf diese Menschen, um ihre Bildungs- und Lebensbedingungen zu verbessern.